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Gemeinde Weingarten (Baden)

Volkstrauertag: Stilles Gedenken im kleinen Kreis

Artikel vom 09.11.2020

Seit Jahrzehnten wird in der Weingartner Friedhofskapelle der Volkstrauertag begangen, als Gedenktag für die Opfer der Weltkriege aber auch von Terror und Gewaltherrschaft. „Ein Tag der Selbstkritik und der Mahnung, aber auch der Hoffnung und der Zuversicht auf Frieden“, so beschrieb Bürgermeister Eric Bänziger 2019 den Anlass in seiner Ansprache.

Das Programm bilden normalerweise Redebeiträge und die musikalische Umrahmung durch örtliche Vereine. Aufgrund der aktuellen Entwicklungen der Corona-Pandemie und der aktualisierten Corona-Verordnung der Landesregierung hat Bürgermeister Bänziger entschieden, von einer öffentlichen Veranstaltung Abstand zu nehmen.

Kranzniederlegung an Gedenkstätten
Traditionell werden an diesem Tag Kränze niedergelegt an der Gedenkstätte für die auf Weingartner Gemarkung umgekommenen Menschen, den Soldatengräbern, sowie dem Ehrenmal am Wartturm.  Die Kränze werden auch in diesem Jahr, jedoch - in aller Stille - durch Bürgermeister Bänziger niedergelegt.

Sie sind herzlich eingeladen, jederzeit an den Gedenkstätten vorbeizukommen und im privaten Kreis der Opfer zu gedenken. Bitte beachten Sie die aktuell geltende Corona-Verordnung, halten Sie Abstand bzw. tragen Sie eine Alltagsmaske.

Wir danken allen für ihre grundsätzliche Bereitschaft, auch in diesem Jahr mitzuwirken. Besonderer Dank gilt Herrn Pfarrer Stähle für seine vorbereitete Ansprache, welche nachfolgend abgedruckt ist.

Hinweis: Ansammlungen sind nur gestattet mit Angehörigen des eigenen Haushalts oder mit Angehörigen des eigenen und eines weiteren Haushalts einschließlich deren Ehegatten, Lebenspartnern, Partnern einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, Verwandten in gerader Linie, mit insgesamt nicht mehr als 10 Personen.

Ansprache von Pfarrer Jochen Stähle von der Evangelischen Kirchengemeinde Weingarten (Baden).

Liebe Leserin, lieber Leser,

eindrücklich und beklemmend waren die Stationen, die vor wenigen Wochen in der katholischen Kirche anlässlich des 80. Jahrestags der Deportation nach Gurs aufgebaut waren. Koffer mit Namensschildern, die für eine Reise ohne Wiederkehr stehen. Eine gedeckte, verlassene Kaffeetafel, die davon erzählt, wie Menschen aus ihrem Haus und ihrer Heimat herausgerissen wurden. Familienstammbäume, die weit zurückreichen und ahnen lassen, wie fest verwurzelt jüdische Familien in Weingarten waren, wie sie als Nachbarn, Freunde und Kollegen hier lebten und ganz selbstverständlich dazu gehörten. Reibungslos und ohne Zwischenfälle sei die Deportation abgelaufen, gab Reinhard Heydrich damals in Berlin bekannt, und sie sei von der Bevölkerung kaum wahrgenommen worden. Natürlich gab es auch hierzu eine Vorgeschichte. Über Jahre hinweg wurden Vorurteile geschürt, wurden Menschen aus dem öffentlichen Leben ausgegrenzt, wurde ihnen die Würde und das Ansehen genommen, bevor man daran ging, ihnen auch das Leben zu nehmen: Jüdinnen und Juden, unheilbar Kranken, Homosexuellen und wer sonst nicht ins nationalsozialistische Weltbild passte. Und schließlich hat ein Krieg die Welt überzogen, der Millionen das Leben oder die Gesundheit kostete, der Menschen entrechtete und unendliches Leid brachte.

Wer von heute aus auf die Ereignisse damals schaut fragt sich, warum das Unrecht von so vielen schweigend hingenommen wurde. Nun ist es leicht, sich mit dem Abstand von sieben oder acht Jahrzehnten zu entrüsten. Aber wie jeder und jede von uns in dieser Situation gehandelt hätte, kann keiner und keine sagen. Allerdings wirft die Vergangenheit auch ein Licht auf unsere Gegenwart. Vorurteile gegen andere Menschen werden nach wie vor geschürt. Hass und Pöbeleien in den sozialen Medien - und nicht nur dort - nehmen zu. In der angeblichen Anonymität des Netzes muss scheinbar die Würde anderer Menschen nicht mehr geachtet und Respekt nicht mehr gezollt werden. Ohne Zweifel haben die Verbrechen des dritten Reiches noch einmal eine andere Qualität und Vergleiche können nicht gezogen werden. Was sich damals an Menschenverachtung und Brutalität gezeigt hat, was an Leid und Zerstörung, an Hunger und Elend über die Menschen gebracht wurde, widersteht jedem Vergleichen.

Aber Erinnern macht ja nur dann Sinn, wenn es mehr ist als nur der Blick auf das, was vergangen ist. Erinnern heißt auch immer, sich wieder neu ins Bewusstsein zu rufen, was geschehen ist, was geschehen konnte. Erinnern ist - das ist ein wichtiges Element aus der jüdischen Tradition - Vergegenwärtigung. Es geht nicht nur darum, die Leiden und die Tränen nicht zu vergessen. Die Tränen der Mütter und Väter um ihre Kinder, die der Söhne und Töchter um die Eltern, um den Ehemann oder die Ehefrau, Angehörigen, Freund und Nachbarn. Erinnern heißt auch, sich bewusst zu machen, dass die Vergangenheit immer auch mit unserer Gegenwart zu tun hat und nicht irgendwann einmal gewesen ist. Je länger ein Ereignis zurückliegt, desto weniger scheint dies so zu sein und der Bezug zu heute gering zu sein. Dabei hat der Krieg ja nicht nur die Generation meiner Großeltern und Eltern geprägt. Auch wenn mein Großvater nur wenig vom Krieg sprach, so kam er unterschwellig doch immer wieder vor. Darüber, wie er über Politik dachte und sprach oder auch in der für viele so typischen Sparsamkeit. Manches davon, auch das merkt man erst mit der Zeit, wirkt bis heute nach in der Familie oder in der eigenen Persönlichkeit.

Umso enttäuschender dann der Eindruck, dass anscheinend so wenige Lehren daraus gezogen wurden. Kriege beherrschen immer wieder unsere Nachrichten. Terror und Gewalt, das rücksichtslose Durchsetzen eigener Interessen, die Missachtung der Würde und der Rechte derer, die anders glauben, denken, leben als man selbst, begegnet uns immer wieder - in Syrien und im Jemen, in Paris und Wien. Glücklicherweise gibt es auch andere Entwicklungen. Allem Populismus zum Trotz gibt es heute mehr Demokratien als je zuvor. Menschen lassen sich ihre Stimme nicht verbieten und stehen auf gegen Unrecht und Unterdrückung. Wie in Belarus. Viele bemühen sich um Verständnis und Achtung füreinander. Auch wenn durch Corona viele Begegnungsmöglichkeiten eingeschränkt sind.

Für den 15. November, dem diesjährigen Volkstrauertag, haben die Herrenhuter Losungen einen Vers aus dem 2. Timotheusbrief ausgewählt: „Jage nach der Gerechtigkeit, dem Glauben, der Liebe, dem Frieden mit allen, die den Herrn anrufen aus reinem Herzen.“ Dieser Satz formuliert ein Bemühen, das uns bleiben wird: dem Frieden nachzujagen, der Gerechtigkeit, der Liebe und dem Glauben - dort, wo wir zusammenleben und - hoffentlich auch wieder bald - zusammenkommen. Unter Nachbarn und Freunden, mit Einheimischen und Fremden, in der Gemeinde und im Verein. Was könnte uns Besseres passieren, als dieses: Wenn jemand später einmal auf unsere Zeit blickt, erinnert er sich an dieses Bemühen. Er erinnert sich daran, dass wir nicht vergessen haben, was passiert und gewesen ist. Sondern dass der Blick in die Vergangenheit, auf das Leiden und Sterben von Menschen in Krieg und Verfolgung, uns geholfen hat, die Zukunft zu gestalten: friedlich, gerecht und respektvoll.

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